KUBO Mitsue war damals 16 Jahre alt. Sie ging in die 10. Klasse der Nagasaki-Oberschule für Mädchen. Sie wurde zum Dienst in einer Rüstungsfabrik eingezogen und arbeitete in der Waffenherstellung. Während der Arbeit wurde sie plötzlich von einem gleißenden Licht, einem Donnern, das die Erde erbeben ließ, und einer Druckwelle überwältigt. Sie wurde unter der einstürzenden Fabrik begraben. Auf der Flucht sah sie eine Mutter, die ihr schwarz verbranntes Baby in den Armen hielt. Dieser Anblick zerriss ihr das Herz.
Ich wohnte damals bei meiner Freundin Chī zur Untermiete. Als sie mit mir bis zur Bahn gegangen war, sagte sie plötzlich: „Ich will heute nicht zur Arbeit. Ich geh‘ heim“, und kehrte um. Wenn ich heute darüber nachdenke, war es besser so. Ihr Arbeitsplatz sollte viel stärker zerstört werden als meiner. Kaum war ich an der Fabrik angekommen, ertönte der Fliegeralarm. Panisch rannte ich viele Steinstufen und steile Wege hinauf und floh zum Luftschutzbunker. Der Bunker für Schülerinnen lag oben auf einem Berg. Dorthin zu rennen dauerte ziemlich lange. Es war sehr anstrengend, denn ich war so schnell ich konnte die Stufen und steilen Wege hochgerannt. Im Bunker kam eine Freundin zu mir und flüsterte mir ins Ohr: „Am 6. August soll eine neuartige Bombe über Hiroshima abgeworfen worden sein. Die explodiert in der Luft.“ „Hiroshima ist völlig zerstört.“ Da ich zum ersten Mal von dieser neuartigen Bombe hörte, meinte ich bestürzt: „Das ist ja schrecklich.“ Genau so eine Bombe sollte wenige Stunden später über unseren Köpfen explodieren. So etwas hätte ich mir nie träumen lassen. „Das ist eine wirklich furchtbare Bombe“, fanden wir. Der Fliegeralarm wurde aufgehoben, also gingen wir in die Fabrik zurück. Dort fingen wir mit der Arbeit an, als mich ein unbeschreiblicher Lichtblitz blendete, der plötzlich aufleuchtete. Dann gab es ein Donnern, als ob unzählige Blitze auf einmal einschlagen würden. Gleichzeitig kam eine Druckwelle. Es war noch viel, viel lauter als bei einem Taifun. Der Lärm, das Licht und die Druckwelle überwältigten mich gleichzeitig. In diesem Moment riss es mich von den Füßen. Ich wurde zu Boden geschleudert und verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, erklangen überall Schreie junger Mädchen, die nach ihrer Mutter riefen. Ich hörte die Schreie und nahm meine Umgebung wieder wahr: Ich war unter den Trümmern der Fabrik begraben. Unter so vielen, dass ich mich nicht rühren konnte. Als ich meine Hand etwas bewegte, spürte ich, dass es unter meinem Gesicht feucht war. Ich befürchtete, dass das Blut war, und als ich meinen Kopf betastete, fand ich eine Wunde. Was sich so feucht angefühlt hatte, war also tatsächlich mein Blut. Ich hatte Angst, mich nicht mehr bewegen zu können, aber ich sagte mir: „Ich darf nicht sterben, ich muss weiterleben.“ Verzweifelt und am Rande meiner Kräfte wand ich mich und bewegte meinen ganzen Körper. Da bildete sich über meinem Kopf ein kleiner Spalt, durch den ein wenig Licht hereinfiel. Ich steckte meinen Kopf durch diese Öffnung, zwängte mich ganz hindurch und konnte so entkommen. Da kam eine Mittelschülerin auf mich zugelaufen: „Nicht weinen!“ „Am Tor gibt es eine Krankenstation, lass dich dort schnell behandeln.“ Ich kannte sie zwar vom Sehen, aber hatte noch nie mit ihr geredet. Dadurch, dass sie mich angesprochen hatte, wurde mir klar, dass ich nicht alleine war, und das gab mir Mut. Ich war froh, dass da jemand war, den ich kannte. Ich ging zur Krankenstation am Tor, aber es gab dort nichts mehr, was aussah wie eine Krankenstation. Es stand kein einziges Gebäude mehr - weit und breit nur eine Trümmerwüste. Ich habe die Hölle zwar nie gesehen, aber für einen Moment dachte ich, dass man diesen Anblick wohl als Hölle bezeichnen könnte. Ich sah Menschen, denen die verbrannte Haut in Fetzen vom Leib hing. Von den herumliegenden Leichen ganz zu schweigen. Überall waren Menschen mit Brandverletzungen, die sich nicht mehr bewegen konnten und sich auf dem Boden krümmten. In diesem Moment dachte ich: Genau so muss es in der Hölle aussehen. Unter einem Dach drangen Hilfeschreie hervor. Aber niemand war in der Lage zu helfen, denn alle rannten verzweifelt um ihr eigenes Leben. Während der Flucht vom Berg traf ich auf HASHIMOTO. Sie war es, die mir im Luftschutzbunker erzählt hatte, dass über Hiroshima eine neuartige Bombe abgeworfen worden war. Wir nahmen uns an der Hand und flohen in Richtung Berge. Da hörten wir wieder das Dröhnen von Flugzeugen. Das Licht, der Knall, die Druckwelle – ich hatte das Gefühl, dass so etwas Ähnliches erneut passieren würde. Ich konnte es vor Angst kaum aushalten. „Ich hab‘ Angst, ich hab‘ Angst!“, schrie ich, während wir davonliefen. Dann kamen wir auf ein großes Feld. Wir hielten uns an den Händen und liefen panisch auf dem Feld umher. Es gab aber keinen Ort, zu dem wir hätten fliehen können. Ein Junge, der ein Stirnband mit der roten Sonne der japanischen Flagge trug, hatte sich im Schatten der Büsche versteckt. Er rief uns zu: „Hier ist es sicherer, kommt her!“ Wir griffen nach diesem letzten Strohhalm, liefen zu dem Jungen und warteten darauf, dass sich das Dröhnen entfernte. Danach folgten wir ihm eine Zeit lang. Er lief in ein Wäldchen auf einem Berg, also flohen auch wir dorthin. Im Schatten der Bäume war es kühl und angenehm, aber wir konnten von dort sehen, wie sich ganz Nagasaki in ein Flammenmeer verwandelte. Zuerst loderten hier und da Feuersäulen auf. Dann breitete sich das Feuer nach und nach aus, bis schließlich ganz Nagasaki zu einem Meer aus Flammen geworden war. Ein Mann mit nacktem Oberkörper, der auch ins Wäldchen geflohen war, starrte mit verschränkten Armen auf das Flammenmeer von Nagasaki. Er schrie: „Wir verlieren den Krieg!“ Wir verließen das Wäldchen wieder, weil wir nicht ewig dort bleiben konnten. Da bot sich uns erneut ein herzzerreißender Anblick.
【Eine Prozession aus Verletzten】
Da gingen Scharen von Menschen, die einer dem anderen wie in einer Prozession hinterherliefen. Allen hing die verbrannte Haut in Fetzen herunter. Von den Schultern abwärts war alles verbrannt und entzündet. Die Haut reichte ihnen bis zum Boden, wenn sie die Arme hängen ließen. Deswegen hielten sie beim Laufen ihre Arme hoch. Das muss schmerzhaft gewesen sein. In der Menge lief eine Mutter, die ihr schwarz verbranntes Baby in den Armen hielt. Es war wirklich herzzerreißend. Im Schatten von Büschen und Erdwällen sah ich Menschen, die sich wahrscheinlich mit letzter Kraft dorthin geschleppt hatten. „Wasser …“, flehten sie mit schwacher Stimme. Sie streckten ihre Hände aus und baten um Wasser. Aber weil es hier auf dem Berg kein Wasser gab, konnten wir ihnen nichts geben. Ich bat innerlich um Verzeihung und ohne ihnen Wasser geben zu können, stiegen wir vom Berg hinunter. Unter äußerster Anstrengung gelangten wir in die Stadt. Das Zuhause von Hashimoto war in der Nähe, also schickte ich sie zuerst heim. Ich wohnte in Jūninmachi, nicht weit vom Stadtzentrum entfernt. Deshalb sagte ich: „Ich schaffe es allein zurück, also geh' ruhig heim.“ Aber sie erwiderte: „Ich bringe dich zu deiner Unterkunft“, und war so nett, mit mir fast den ganzen Weg nach Jūninmachi zu gehen. Zu dieser Zeit ging bereits die Sonne unter und es begann zu dämmern. Als ich endlich bei meiner Unterkunft ankam, freute sich Chīs Mutter sehr: „Ich bin froh, dass du sicher zurückgekommen bist!“ Ihre Tochter war zwar morgens mit mir aus dem Haus gegangen, hatte aber auf halbem Weg gesagt: „Ich geh‘ heim“, und war zurückgegangen. Chīs Mutter hatte gedacht: „Nur meine Tochter ist heimgekehrt. Was mache ich nur, wenn Fräulein Takeno etwas zugestoßen ist?“ Takeno ist übrigens mein Mädchenname. „Ich hatte die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen deinen Eltern gegenüber.“ Sie war wirklich froh. Auch Chī freute sich und sagte: „Es tut mir leid, dass ich allein nach Hause gegangen bin.“ An diesem Abend konnte ich vor Übelkeit nicht einmal Reisbrei essen. Ich bekam in Salz eingelegte Pflaumen, die sehr lecker waren. Ich trank Tee und aß zwei oder drei davon. Von da an nahm ich für ungefähr eine Woche nichts außer diesen Pflaumen und Tee zu mir. Auch heute noch esse ich eingelegte Pflaumen, wenn es mir schlecht geht. Wahrscheinlich haben sie mir das Leben gerettet. Dafür bin ich wirklich dankbar.
【Rückkehr in die Heimat】
Mein Elternhaus liegt in Mīraku. Da ich ein Schiff fand, das dorthin fuhr, kehrte ich heim. Ich war wirklich froh. Damals fuhren einige mit diesem Schiff. Mein Onkel wohnte in Tomie, deshalb bat ich jemanden, der dort von Bord ging, ihm auszurichten, dass ich dieses Schiff genommen hatte. Diese Person wird meinem Onkel wohl Bescheid gegeben haben, denn als ich in Mīraku ankam, brachte meine Mutter mir ein großes Reisbällchen, fast schon ein Ball, gemischt mit Gerste, weil es damals an Reis mangelte. Bis zur Anlegestelle in Mīraku waren es von unserem Haus aus vier Kilometer. Trotzdem war sie an diesem heißen Sommertag anscheinend so schnell sie konnte dorthin gerannt. Sie war vollkommen durchgeschwitzt und kam mich mit dem Reisbällchen in der Hand abholen. Da ich immer hungrig war, aß ich es und sagte: „Das ist so lecker!“ Das werde ich nie vergessen.
【Die körperliche Verfassung danach】
Etwa eine Woche nachdem ich heimgekehrt war, setzte die Übelkeit erneut ein. Mein Haar fiel aus und ich bekam anhaltendes leichtes Fieber. Mittlerweile glaube ich, dass es die Strahlenkrankheit war. Ich war fiebrig und fühlte mich schlapp. Dieser Zustand hielt etwa einen Monat lang an. Da von meiner Schule keine Nachricht kam, nutzte ich den ganzen Oktober um mich zu erholen. Aber da ich mich wegen der Schule sorgte, kehrte ich Ende Oktober dorthin zurück. Ab dem ersten November besuchte ich wieder die Schule. Von da an nahm ich erneut am Unterricht teil, aber da ich so viele Monate verpasst hatte, war es schwierig.
【Was ich mitteilen möchte】
Kriege werden von Menschen verursacht. Auch die Atombombe wurde von Menschen entwickelt und eingesetzt. Und dadurch wurden so viele Menschen ihres Lebens beraubt. Ich glaube, dass es möglich sein muss, Kriege, die von Menschenhand verursacht werden, auch von Menschenhand zu verhindern. Ich will sie unbedingt irgendwie verhindern. Die Kraft jedes Einzelnen von uns ist wirklich gering. Aber wenn wir uns zusammentun und unsere Kräfte vereinen, wird daraus eine große Stärke. Ich wünsche mir, dass wir mit dieser großen Stärke den Frieden wahren, die Atomwaffen abschaffen, und die Welt so zu einem Ort ohne Krieg machen. Den Schrecken der Kernwaffen und der Atombombe dürfen wir niemals vergessen. Ich mache mir Sorgen, dass, wenn wir - die Atombombenopfer - alt werden und sterben, niemand mehr da ist, der über die Atombombe spricht, und dass dies alles in Vergessenheit geraten könnte. Niemals dürfen wir vergessen. Niemals mehr sollen Kriege geführt werden.
Übersetzung: MA Studierende des Sommersemesters 2015 der Universität Bonn
Leitung der Übersetzung: Heike Patzschke, Naoko Tamura-Foerster
Koordination der Übersetzung: Network of Translators for the Globalization of the Testimonies of Atomic Bomb Survivors (NET-GTAS)
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