KIMURA Hisako war damals 8 Jahre alt. Ihr Leben während des Krieges war den Umständen entsprechend unbeschwert und glücklich. Frau Kimura, die damals noch ein Kind war, erinnert sich nicht an den Moment des Abwurfs der Atombombe. Ihr Gedächtnis ist voller grausamer Bilder, wie das ihres schwer verletzten Großvaters. Die furchterregenden Flammen entrissen ihr zehn nahe Verwandte, einschließlich ihres Vaters, und zerstörten ihr bis dahin glückliches Leben.
Am 5. August verabschiedete ich mich von meinem Vater und ging zum Haus meines Großvaters im Stadtvierte Ōsuga in Hiroshima. Das Stammhaus meines Großvaters stand in Onomichi. Das Haus in Ōsuga war so etwas wie ein Ferienhaus, in dem wir unsere Sommer verbrachten. Manchmal kamen mein Großvater oder mein Onkel und meine Tante mit ihren Kindern nach Hiroshima, um dort zu wohnen. Zufällig ging ich am 6. August nicht zur Schule, sondern verbrachte den Tag mit meiner Mutter und meinen Geschwistern im Haus meines Großvaters. An diesem Tag gab es, noch bevor wir gefrühstückt hatten, einen Fliegeralarm. Ich erinnere mich daran, dass wir anfingen zu essen, als der Alarm aufgehoben wurde. Nachdem wir mit dem Essen fertig waren, verging noch eine Weile, bis es passierte. Mein Großvater war gerade draußen im Garten und kümmerte sich um die Pflanzen. Mein Onkel und meine Tante, meine Mutter, meine Geschwister, meine Cousins und Cousinen und ich waren im Haus.
Um 8:15 Uhr wurde die Atombombe abgeworfen. Unser Haus stürzte ein und wir wurden darunter begraben. Wie viel Zeit danach verging, weiß ich nicht. Als ich wieder zu mir kam, war meine Mutter verschwunden. Aber mein Onkel und seine Familie waren da. Alle sagen, dass ein heller Blitz aufgeleuchtet habe, aber ich habe ihn nicht gesehen. Ob ich zu diesem Zeitpunkt schon das Bewusstsein verloren hatte? Jedenfalls habe ich gar nichts mehr mitbekommen.
Als ich wieder zu mir kam, sah ich neben mir meinen Großvater. Er hatte am ganzen Körper Verbrennungen. Das war nicht der Großvater, den ich noch kurz zuvor gesehen hatte. Seine Haut schälte sich ab und hing herunter. Sie war feuerrot. Ich war ja noch ein Kind und so fragte ich mich:„Was ist passiert? Was ist mit meinem Großvater los? Wo ist meine Mutter?“ Vor Angst weinte ich. Ich hörte, wie mein großer Bruder sagte: „Hör auf zu weinen!“ Und weil er, ein Viertklässler, sagte: „Wein doch nicht und reiß dich zusammen!“,dachte ich: „Er hat ja Recht.“ Es blieb uns nichts Anderes übrig, als still abzuwarten.
Dann gingen wir zusammen mit meinem Großvater, so wie wir waren, in Richtung Bahnhof Hiroshima. Ein Soldat rief: „Etwas Schreckliches scheint vom Himmel gefallen zu sein! Verlasst Hiroshima, so schnell es geht!“ Deshalb flüchteten wir zum Bahnhof und kamen dabei nur mühsam voran. Auf dem Weg dorthin stapelten einige Soldaten am Straßenrand Leichen zu hohen Bergen. Ohnehin gab es keine Straßen mehr. Ehe wir uns versahen, war es stockdunkel geworden, wie tiefste Finsternis. Fragte man mich jetzt nach der Farbe dieser Finsternis, fände ich keine passenden Worte.Als wir dort entlang gingen, kam aus einem Berg an Leichen, die von den Soldaten eine nach der anderen aufeinander geworfen wurden, eine Hand heraus und packte mich am Knöchel.
Eine verletzte Person
Ob es eine Frau oder ein Mann war, ein älterer Mensch oder ein Kind, weiß ich nicht. Dieser Jemand hielt meinen Knöchel fest und flehte mich an: „Mutter, hilf mir!“ Die Haut dieser Person klebte an meinem Knöchel. Weil sich das eklig anfühlte, schüttelte ich sie ab, und ich erinnere mich, dass ich, von Onkel und Tante gezogen, schnell weiterlief. Wie viel Zeit vergangen war, weiß ich nicht, aber jemand aus Onomichi, der gehört hatte, dass in Hiroshima offenbar etwas Schreckliches passiert war,kam uns entgegen, um uns abzuholen. Wir trafen uns irgendwo und kamen schließlich mit meinem Großvater in Onomichi an.
Mein Großvater musste auf jeden Fall gesund gepflegt werden. Ich pflegte ihn, wie es mir von den Erwachsenen gesagt wurde, aber das fiel mir äußerst schwer, denn aus seinem Körper quollen unzählige Maden hervor. Ich wunderte mich, warum wohl so viele Maden herauskamen, während ich sie mit einer Pinzette entfernte. Der Körpergeruch meines Großvaters war so widerlich. Das ist wirklich mit nichts zu vergleichen, auch nicht mit verfaultem Fisch. Einen solchen Gestank findet man heute nirgendwo mehr, wo immer man auch sucht. Er war so widerlich, dass ich mir dachte: „Die Pflege wird mir einfach zu viel. Ach, wenn doch Großvater nur bald sterben würde!“ Dieser kindliche Gedanke erfüllt mich heute mit einem Gefühl von Ohnmacht und Bedauern. Das hat in mir eine unsägliche Wunde aufgerissen, die ich noch immer in meinem Herzen trage. Dieses Gefühl ist unerträglich.
In der Zwischenzeit kehrte meine Mutter mit meinem Vater nach Onomichi zurück. Sie war zwar wohlauf, aber meinen Vater hatte man in ein kleines Medizinfläschchen gefüllt. Als ich das sah, war ich trotzdem erleichtert. Ich hatte zwar verstanden, dass mein Vater tot war, aber ich war froh, dass meine Mutter noch lebte und ich kein Waisenkind geworden war. Ich fühlte mich sicher und erleichtert.
Als meine Mutter ihren Vater sah, sagte sie: „Du musst jetzt stark sein“, und berichtete: „Sadaomi ist am 9. August verstorben.“ Ich glaube, für meine Mutter war es kaum zu ertragen. Heute ist sie mit ihren 93 Jahren gesund und munter. Sie hat ihren Vater und auch ihren Ehemann verloren, aber sie will nicht mehr über die damalige Zeit reden. Ich habe all die Jahre gedacht: „Meine arme Mutter!“ Damals wollte ich wissen, was mit meinem Vater passiert war und fragte meine Mutter danach. Tatsächlich war mein Vater losgegangen, um uns abzuholen. Als die Atombombe abgeworfen wurde, war er gerade mit einer Krankenschwester unterwegs zu einem Hausbesuch. Die Krankenschwester wurde weggeschleudert und tauchte nie wieder auf. Mein Vater ging allein weiter. Als er an unserem Ferienhaus ankam, waren wir nicht mehr da. Er war verletzt und weil er Arzt war, wusste er wohl, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Er ging zu einem Kollegen im Dorf Midorii im Landkreis Asa und lag dann dort im Bett.
Meine Mutter hatte den Bombenabwurf in Ōsuga erlebt und dachte, sie müsse auf jeden Fall zu ihrem Mann. Daher vertraute sie uns meinem Onkel und meiner Tante an und machte sich auf die Suche nach meinem Vater. Sie fand ihn am Morgen des 9. August. In Midorii stand das Imai Krankenhaus. Ich glaube, das gibt es heute noch. Meine Mutter ging dorthin und traf meinen Vater, der dort im Bett lag. „Es ist so schwer zu ertragen!“ soll mein Vater gesagt haben. Weil er selbst Arzt war, wusste er um seinen Zustand Bescheid. „Es ist sicher kaum zu ertragen, aber kümmere dich um unsere vier Kinder. Ich würde so gern den blauen Himmel von Hiroshima sehen“, soll er zuletzt gesagt haben. In der Nacht des 9. August verließ mein Vater diese Welt. Meine Mutter erzählte uns, dass ein Soldat meinen Vater für sie auf einem Feld mit Kerosin überschüttet und verbrannt hat. Ein menschlicher Körper lässt sich nicht so einfach verbrennen. Von der Hüfte abwärts, sagte sie, sei er nicht verbrannt. Aber weil der Soldat gesagt hatte: „Vielleicht kommt es zu einer zweiten Katastrophe. Deshalb sollten Sie auf jeden Fall schnell aus Hiroshima fliehen“, hatte sie nur wenige Knochen eingesammelt. Ich glaube, die übrigen Knochen meines Vaters wurden, so wie sie waren, auf dem Feld vergraben. Danach kam meine Mutter nach Onomichi zurück.
Meine gesamte Schulzeit über musste ich mich um den Haushalt und meine Geschwister kümmern. Meine Mutter ging arbeiten. Sie musste arbeiten, auch wenn sie das noch nie zuvor getan hatte, weil sie aus gutem Hause stammte. Wenn sie zurückkam, wurde sie jedes Mal ganz hysterisch. Immer musste ich alles dafür tun, um das zu verhindern. Diese Sorge war mein ständiger Begleiter. Eine wirkliche Jugend hatte ich überhaupt nicht. Daher wollte ich manchmal mein Zuhause verlassen und an den Ort gehen, wo mein Vater war. Aber dann dachte ich: „Das geht nicht, meine Mutter hat noch mehr zu kämpfen, da kann ich mir doch nicht einfach so das Leben nehmen. Ich muss durchhalten.“
Als ich 20 Jahre alt war, zogen wir nach Tōkyō. Weil alle für eine Ausbildung oder ein Studium dorthin aufbrachen, wollten auch wir alle dahin, und so machte ich mich mit meiner Mutter auf den Weg in die Hauptstadt. Wir regelten den Verbleib des Hauses in Hiroshima und zogen um. Das Schicksal wollte es, dass ich dort meinen Ehemann kennenlernte. Er stammt aus Yamagata. Die Leute aus der Tōhoku-Region wussten nichts über die Atombombe. Als ich ihm sagte: „Ich war in Hiroshima, als die Atombombe abgeworfen wurde“, erwiderte er verwundert: „Das ist doch kein Problem.“ Den Eltern meines Mannes erzählte ich ebenfalls davon, und auch sie wussten nichts über die Schäden durch die Atombombe. 1967 heirateten wir. Heute zeigen sie Berichte über die Atombombe, z.B. im Fernsehen, aber zu der Zeit wusste man nichts davon.
Als ich dann verheiratet war, hatte ich aber große Angst, Kinder zu bekommen. Während der Schwangerschaft mit meinem ältesten Sohn, war ich unheimlich in Sorge, ob er gesund und ohne Behinderung zur Welt käme. Es brachte nichts, immerzu darüber nachzudenken. Als Mutter blieb mir nichts Anderes übrig, als ihn zur Welt zu bringen. Schließlich wollte ich ja auch Kinder. Ich bekam ein wirklich süßes Kind. Es war ein sehr kleines Kind und wog etwa 2400 Gramm. Ein anderes Kind, das zur gleichen Zeit geboren wurde, wog 4000 Gramm. Mein Sohn hatte schwache Bronchien, weshalb wir mit ihm immer wieder in die Klinik gingen, aber heute hat er selbst zwei Söhne.
Mein Mann hatte großes Verständnis für meine Sorgen und sagte: „Nur weil du ein Atombombenopfer bist, bedeutet das nicht, dass du Krankheiten überträgst. Seine Bronchien lassen sich bestimmt mit Medikamenten behandeln. Damit wäre es doch getan“, sagte er. Ich hatte auch eine Operation wegen grauen Stars. Davor hatte ich einen vermeintlich gutartigen Tumor in der Gebärmutter, der sich aber als bösartig herausstellte. Ich habe bisher noch nicht darüber gesprochen, aber mir wurde damals die Gebärmutter vollständig entfernt und ich konnte keine Kinder mehr bekommen. Im Moment geht es mir gut. Aber wenn ich merke, dass sich mein Zustand verschlechtert, gehe ich sofort zum Arzt.
Was meine Ehe betrifft, hatte ich wirklich Glück. Da ich vorher so viel gelitten hatte, wollte ich wenigstens eine glückliche Ehe führen. Ich habe einen gütigen Ehemann und gute Kinder. Heute sind wir eine achtköpfige Familie und führen ein glückliches Leben.
Die Botschaft, die ich vermitteln möchte
Zum 60. Gedenktag an die Atombombe fuhr ich noch ein letztes Mal nach Hiroshima, mit der Absicht, mit dieser Vergangenheit abzuschließen. Doch als ich das Grab meines Vaters besuchte, hatte ich das Gefühl, als würde er rufen: „Ich habe dir eine Bestimmung gegeben!“ Da dachte ich, ich sollte wohl doch aktiv werden, und ich verspürte den Wunsch, eine wahrhaft friedliche Welt zu erschaffen, die keine Atombombenopfer mehr hervorbringt, und diese Welt an die nächste Generation weiterzugeben. Mein Vater hätte mich wahrscheinlich dazu aufgerufen, aus diesem Gefühl heraus zu handeln. So fasste ich meinen Entschluss und kehrte nach Sendai zurück.
Zurzeit herrscht Krieg im Irak. Ich wünsche mir, dass es nirgendwo mehr Krieg gibt. Von Menschenhand gebaute Atombomben und -waffen können auf jeden Fall von Menschenhand gestoppt werden! „Mit jeder einzelnen Stimme wird auch eine Atomwaffe vernichtet“, erkläre ich allen. Es ist mein innigster Wunsch, Nuklearwaffen abzuschaffen und der nächsten Generation eine friedliche Welt zu übergeben. Dafür setze ich mich mit Leib und Seele ein.
Übersetzung: Bianca Bonn, Michael Derichs, Julia Hahn (MA Studierende des Sommersemesters 2019 der Universität Bonn)
Leitung der Übersetzung: Dr. Heike Patzschke, Dr. Naoko Tamura-Foerster
Koordination der Übersetzung: NET-GTAS (Network of Translators for the Globalization of the Testimonies of Atomic Bomb Survivors)
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