AMANO Fumiko , damals 14 Jahre alt. Noch vor Tagesanbruch des 7. August macht sie sich auf in die Stadt, um ihre Familie zu suchen. Als sie Hiroshima, nun eine Stadt des Todes, sieht, wird ihr zum ersten Mal bewusst: Krieg ist Mord! Sie trifft zwar schließlich wieder mit ihrer Familie zusammen aber ihr schwer verletzter älterer Bruder stirbt nach einem halben Monat voller Qualen. Fumiko empfindet es als unverzeihlich, wenn die Überlebenden vergessen oder schweigen. Um einen ersten Schritt in Richtung Versöhnung zu gehen, gibt sie fortlaufend Zeitzeugenberichte im In- und Ausland.
Am Vortag des Atombombenabwurfs
Mein Bruder hatte eine schwache Konstitution und wurde deshalb bei der Musterung als eingeschränkt diensttauglich eingestuft. Trotzdem wurde er zum Kriegshilfsdienst eingezogen und ging nach Hitonose-mura auf der Insel Etajima. Schließlich wurde seine körperliche Verfassung nach nicht einmal einem Monat so schlecht, dass er eine Operation benötigte und am 1. August wieder nach Hiroshima heimkehrte. Es war vereinbart, dass wir am 6. August morgens um halb 8 meinen Bruder in einem mit Bettzeug ausgepolsterten Karren ins Krankenhaus bringen sollten. Am Abend davor sagte meine Mutter: „Der Fliegeralarm hat aufgehört. Lass uns mal beim Shima-Krankenhaus vorbeischauen“, und nahm mich dorthin mit. An jenem Abend war es besonders dunkel und viele Sternschnuppen fielen. Während ich sie betrachtete, sagte ich: „Mama, heute Abend ist es irgendwie viel zu ruhig. Das ist seltsam, oder?“ Auf dem Weg zum Krankenhaus sahen wir auf der rechten Seite das Gebäude der Industrie- und Handelskammer Hiroshima, das elf Stunden später zum Atombombendom werden sollte. Als meine Mutter fragte: „Wir haben für morgen früh einen Termin. Bleibt es dabei?“, antwortete die junge Krankenschwester: „Da Sie ja einen Termin haben, geht das in Ordnung.“ Meine Mutter bedankte sich erleichtert und wir wollten uns auf den Heimweg machen. Doch kaum hatten wir die Tür geschlossen, kam die Oberschwester zu uns heraus und sagte: „Der Krankenhausdirektor Dr. SHIMA Kaoru geht morgen für einige Operationen ins Krankenhaus seines Freundes auf dem Land, so wie jedes Jahr. Deshalb reicht es auch, wenn Sie erst am 7. kommen.“ Mit diesen Worten hat die Oberschwester mein Leben gerettet.
Die Geschehnisse am Tag des Atombombenabwurfs
Ich musste am 6. August nicht arbeiten, weil ich ab diesem Tag für eine Woche frei bekommen hatte, um meinen Bruder im Krankenhaus zu pflegen. Aber da alle anderen arbeiteten, entschloss ich mich dazu, doch meinen Dienst anzutreten und fuhr an diesem Morgen mit einem Zug später als sonst zur Fabrik. Nachdem ich dort angekommen war, befand ich mich ganz alleine an meinem Arbeitsplatz im Inneren des Stahlbaus. In dem Moment, als die Atombombe fiel, gab es eine enorme Druckwelle. Die Explosion wird zwar immer mit „ Blitz und Knall“ beschrieben, aber ich bemerkte keins von beiden. Jedenfalls stürzte ich zu Boden, als sei ich von etwas niedergestoßen worden. Dann wurden sofort überall Rufe wie „Hilfe, Herr Lehrer!“ oder „Aua!“ laut. Als ich die Augen wieder öffnete, war ich von einer dichten Staubwolke umgeben. Die Lehrer riefen: „Kommt zusammen!“, stritten sich mit dem Pförtner und ließen uns den Berg hinauf fliehen. Aber wir sahen vom Berg aus mehr und mehr Rauch aus dem lodernden Hiroshima aufsteigen. „Das ist ein Ausnahmezustand!“, riefen wir und liefen zur Fabrik zurück, wo sich dann unsere Gruppe auflöste. Die Lehrer sagten: „Alle, die aus Hiroshima kommen, gehen jetzt nach Hause.“ Ich nahm meine Freundin fest bei der Hand und wir liefen schnurstracks an den Gleisen entlang bis zur Hinterseite des Bahnhofes. Als wir uns vorwärts durch die Menschenmenge drängten, schrie uns ein Soldat an, der einen langen Stock mit einer sichelförmigen Klinge an der Spitze hielt: „Ihr Idioten! Wollt ihr in den Tod rennen? Haut ab!“, und vertrieb uns. Auch er war verzweifelt.
Auf der Suche nach meiner Familie
Ich sah das glutrote Feuer brennen. Die Vorstellung, dass auch ich an diesem Morgen hätte dort sein sollen, in diesem Feuer umgekommen wäre und jetzt verbrennen würde, war unerträglich. Zu diesem Zeitpunkt kam mir gar nicht in den Sinn, dass das Shima-Krankenhaus das Explosionszentrum gewesen sein könnte, aber mir ging durch den Kopf, dass bei derartigen Flammen, die es sogar so aussehen ließen als würde der ganze Himmel brennen, das Krankenhaus bestimmt schon komplett niedergebrannt war und auch ich jetzt tot wäre. Gegen 3 oder 4 Uhr in der Nacht flohen keine Menschen mehr aus der Stadt und auch die Feuer ließen ein wenig nach. Jenseits des leichten Nebels des Sommermorgens flackerten die Feuer zwar noch ein wenig, aber weil ich dachte, dass sie sich beruhigt hatten, begab ich mich vom Bahnhof aus in die Stadt. Von dort aus lag unser Haus direkt hinter einer Brücke. Doch jetzt war die Gegend mit Leichen übersät. Einige waren auch bereits sorgfältig mit Strohmatten oder Blechdächern zugedeckt. Ich lief umher und schaute nach, ob unter den Leichen nicht meine Mutter oder mein Bruder waren. Ich wollte nicht hinschauen, aber ich musste einfach nachsehen. Während der Suche nach meiner Mutter und meinem Bruder faltete ich die Hände, um der Toten zu gedenken. Bald konnte ich es nicht mehr ertragen und setzte mich hin. Ich konnte nicht mehr weitergehen. Es kam mir so vor, als würde ich die Stimme meiner Mutter hören, wie sie mich immer ansprach: „Fumi, zum Glück ist dir auch heute nichts passiert!“ Ich dachte: „Mama lebt!“ Wie wachgerüttelt sah ich mich um, doch sie war nicht da. Jedoch sah ich zufällig direkt vor meinen Augen eine tote Frau mit unversehrtem Gesicht und weit geöffneten Augen, die ihre Hände vor ihrem Körper gefaltet hatte. Sie lag auf der Seite mit dem Gesicht zu mir. Ich habe später noch so ein Gesicht gesehen. Und am Tor des Shukkeien-Gartens sowie am Tor des Hauses des Berufungsgerichtsvorsitzenden habe ich noch zwei Leichen mit unversehrten Körpern gesehen. Ich weiß nicht, warum diese Frau gestorben war, aber ihre Augen waren geöffnet. Als ich sie sah, sprang ich erschrocken auf. Ich hatte das Gefühl, als starrten sie mich an. Zu diesem Zeitpunkt sah ich mich zum ersten Mal in der Stadt Hiroshima um. Gegenüber waren das Fukuya-Kaufhaus und der Chugoku Shimbun-Verlag zu sehen. Ich allein war noch am Leben… Das war wirklich beängstigend. Da stand ich nun, lebendig und ganz allein. Damals dachte ich zum ersten Mal: „Was soll das denn? Krieg ist Mord! Krieg für den Frieden in Asien - das ist doch eine Lüge!“So durchschaute ich in jenem Moment zum ersten Mal den Krieg, der für mich an jenem Tag endete.
Wiedersehen mit meiner Familie
Ich wurde von einer Person mit schwarzem Gesicht angesprochen: „Bist du nicht die Fumi?“Es war unsere Nachbarin. Sie sagte zu mir: „Dein Vater und deine Mutter sind in Richtung Bambushain geflohen. Geh doch mal hin und schau nach! Wahrscheinlich sind sie noch am Leben.“ Ich war erleichtert und lief fünf, sechs Schritte. Gerade in dem Moment kam mir mein Vater entgegen. Sein Stirnband war komplett mit Blut verklebt, aber mit gefasstem Gesichtsausdruck sagte er: „Oh, Fumiko? Du lebst?“ Ich hielt die Hand meines Vaters ganz fest. Ohne ihn hätte ich nicht weiterlaufen können. Wie durch ein Wunder hatten meine Eltern überlebt. Meine Mutter sagte: „Wir müssen zu unserem Haus zurück, weil wir nicht wissen, wo Hideso die Nacht verbracht hat. Lasst uns schnell zurückgehen.“Kurze Zeit später kam jemand aus der Ferne, barfuß, mit pechschwarzem Gesicht, den Arm in einem großen Dreieckstuch und einem dicken Bambusstab als Stütze in unsere Richtung gelaufen. Er bewegte sich so steif, als sei er ein lebendes Holzschwert. Als er uns immer näher kam, schien er uns zu erkennen. Er konnte die Hand zwar nicht heben, aber er kam, den Stab fest in der rechten Hand, auf uns zu gelaufen. Es war mein Bruder. Als ich auf ihn zuging und ihn mit „Hideso“ ansprach, bejahte er. Sowohl meine Eltern als auch ich waren bestürzt und sprachlos. Uns fehlten die Worte.
Das Schreckensbild vor meinen Augen
Im Shukkeien-Garten waren viele Menschen mit stark verschmorten Körpern. Andere schleppten Tragen, auf denen etwas lag, das an schmale Baumstämme erinnerte. Bei näherem Hinsehen waren es Leichen, die aufgrund von starken Verbrennungen eine derartige Form angenommen hatten. Mehr und mehr solcher Leichen wurden herbeigebracht und in den Überresten des niedergebrannten Kiefernhains vor dem Shukkeien-Garten übereinander gestapelt. Ehe ich mich versah, waren sie bereits zu einem hohen Berg aufgetürmt, und ganz oben lag das Hausmädchen vom Gerichtspräsidenten. Sie hatte mir bei der Vergabe der Lebensmittelrationen immer Tomaten gegeben und dazu gesagt: „Die sind vom Feld.“Als ich mit Entsetzen realisierte, dass sie dort unter den Leichen war, konnte ich nicht anders, als mit aller Kraft an ihr zu ziehen. Aber die mit Brandwunden übersäten Leichen klebten alle zusammen. Als ich dann versuchte ihren leblosen Körper mit Gewalt herunter zu zerren, ermahnte mich ein Erwachsener: „Lass das! Die sind alle schon tot. Sie tun einem ja leid, wenn du so an ihnen zerrst.“Als es Abend wurde, gingen wir zu fünft auf die Sakae-Brü indem wir unsere Aufmerksamkeit auf die gegenwärtigen Probleme richten.
Übersetzung: MA Studierende des Sommersemesters 2014 der Universität Bonn
Oberaufsicht der Übersetzung: Heike Patzschke, Naoko Tamura-Foerster
Übersetzung Koordination: NET-GTAS(Übersetzernetzwerk zur Globalisierung der Zeitzeugenaussagen von Atombomben-Überlebenden)
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